Anwendungsszenario: Enteisung der Flügelvorderkante am Flugzeug
Durch die aerodynamische Anströmung trifft während des Steig- und Sinkfluges eines Flugzeugs unterkühltes Wasser auf den Flügel. Besonders im Bereich der Flügelvorderkante sowie an anderen Teilen der Flugzeugaußenhaut bilden sich dadurch Eisablagerungen. Eine ungehinderte Eisbildung kann die aerodynamische Funktion des Flügels stark beeinträchtigen, sodass Verfahren zur Enteisung oder Eisvermeidung während des Fluges zum Einsatz kommen müssen.
Klassische Enteisungsverfahren, wie etwa das Bleed-Air System, das mit heißer Luft aus dem Triebwerk arbeitet oder die Enteisung mit elektrischen Heizmatten sind in der breiten Anwendung bei kommerziellen Flugzeugen bekannt. Die klassischen Systeme und auch neue Konzepte aus Forschung und Entwicklung bringen einen Nachteil mit sich: Es werden zusätzliche, monofunktionale Systemkomponenten verbaut, die die Masse des Flugzeugs erhöhen. Für das Bleed-Air-System werden z.B. Ventile, Rohre und Mechanismen der Primärstruktur hinzugefügt. Ähnlich bei den Heizmatten, die in Form einer zusätzlichen Struktur auf der lasttragenden Flügelstruktur installiert werden. Da die Vorrichtungen nur für kurze Teile der Gesamtflugzeit zur Anwendung kommen erweist sich die Zusatzmasse zumeist als eine parasitäre Masse des Flugzeugs, die permanent mitbefördert werden muss.
Wissenschaftler*innen arbeiten daran, alternative und energiesparendere Lösungen zu entwickeln. So auch Maximilian Schutzeichel, der am Department Fahrzeugtechnik und Flugzeugbau der HAW Hamburg seine Dissertation in einem kooperativen Promotionsvorhaben mit der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg unter Betreuung von Herrn Prof. Dr.-Ing. habil. Thomas Kletschkowski (HAW Hamburg) und Herrn Prof. Dr.-Ing. Hans Peter Monner (OVGU Magdeburg) schreibt.
Verborgenes Potenzial im Material
In diesem Promotionsvorhaben wird das Verhalten multifunktionaler Faserverbundmaterialien analysiert. Von besonderem Interesse sind dabei diejenigen physikalische Eigenschaften, die eine Nutzung für mehr als eine Funktion ermöglichen. Es ist nicht neu, dass Faserverbundmaterialien seit vielen Jahren verstärkte Anwendung in aktuellen Flugzeugstrukturen der industriellen Anwendung finden. Neben den mechanischen Vorteilen sind diese Fasern aber z.B. auch elektrisch leitfähig, sodass sie als Leiterbahnen im Faserverbundwerkstoff aufgefasst werden können. Damit wäre neben der Funktion der Lastübertragung noch eine weitere Funktion, die Übertragung von elektrischer Energie, nutzbar. Die dabei entstehende Joulesche Wärme ist ferner für das Enteisen von Flügelvorderkanten interessant. Die multifunktionale Anwendung des Faserverbundmaterials für Enteisungszwecke wurde bereits 2019 durch ein industrielles Patent der Firma Airbus geschützt [1].
Im klassischen Faserverbundmaterial treten zwischen den vielen Milliarden Fasern ebenso viele Kurzschlüsse auf, da sie sich berühren. Dies führt dazu, dass normalerweise ein elektrischer Strom chaotisch durch dieses Netzwerk von leitfähigen Kohlenstofffasern fließt, was zu einer großen Verlustleistung führt. Als Lösung haben Forscher*innen der Elektrochemie an der Königlich Technischen Hochschule Stockholm (KTH) ein Beschichtungsverfahren für diese Fasern entwickelt, das eine elektrische Isolation der Fasern ermöglicht. Die Faser wirkt nun mehr wie ein typisches Kabel, dessen stromführender Kern von der Umgebung isoliert ist. Diese zusätzliche Materialphase, die Beschichtung, bringt neue Eigenschaften mit, die das mechanische Verhalten des Faserverbunds beeinflussen [2]. Der Vorteil liegt auf der Hand: Nun kann gezielt Strom geführt werden, also genau dort, wo sich die elektrische Energie sinnvoll nutzen lässt, z.B. als Wärmequelle zur Enteisung. Maximilian Schutzeichel erforscht das Materialverhalten aus Sicht der Simulation, bleibt dabei aber in engem Kontakt mit den Forscher*innen in Schweden, sodass ein gegenseitiger Erfahrungsaustausch besteht, bei dem alle von den jeweils neuen Ergebnissen profitieren können.
Berechnung des Materialverhaltens
Um das Verhalten des Materials bei veränderter Temperatur zu beschreiben, muss das Augenmerk auf die Mikroskala gelenkt werden. Ausgangspunkt der Berechnungen ist ein sogenanntes repräsentatives Volumenmodell. Für diesen Würfel erfolgen die Berechnungen auf der Mikrostrukturebene. Das, was für den kleinen Würfel gilt, wird dann auf größere Skalen mittels effektiver Materialkennwerte übertragen.
In einer Versuchsplatte wurden aktive Kohlenstofffaserstränge verbaut, die eine Schnittstelle zu externen Stromquellen aufweisen. In einem speziellen Windkanal der Technischen Universität Braunschweig, am Institut für Mechanik und Adaptronik, der die Gegebenheiten von Flugzeugen unter Vereisungsbedingungen nachstellt (Temperatur: –20 °C, Anströmgeschwindigkeit: bis 35 m/s), konnte im Rahmen des Promotionsvorhabens erstmals überprüft werden, ob Modellvoraussagen und reales thermisches Verhalten übereinstimmen. Die gemessene Temperaturverteilung konnte in dem entwickelten Multiskalenmodell mit guter Effizienz nachgebildet werden [4]. Die sehr gute Qualität der Arbeit wurde von dem Journal Applied Mechanics von MDPI, indem die Ergebnisse veröffentlicht wurden, gleich zwei Mal durch die Darstellung des jeweiligen Themas auf den Titelseiten gewürdigt [3+4].
Neben der rein wissenschaftlich motivierten Untersuchung wurde in einem zusätzlichen Demonstrationsversuch gezeigt, dass die Kohlenstofffasern eine Erwärmung zur Enteisung der Oberfläche erzeugen können. Mit diesen Erkenntnissen als Basis kann im Rahmen des Promotionsvorhabens schließlich das Zusammenwirken von elektrischen, thermischen und mechanischen Lasten dargestellt und analysiert werden. Neben der Frage des Energieeinsparpotenzials ist die Analyse des Materialverhaltens unter den kombinierten Belastungen von besonderer Bedeutung
Wie geht es weiter?
Treiber der weiteren Untersuchung sind erste Ergebnisse aus Versuch und Simulation, die darauf hindeuten, dass gegenüber konkurrierenden Systemen, wie z.B. den Heizmatten der Boeing 787, bis zu 50 % Energie und bis zu 80 % der Masse des Enteisungssystems eingespart werden können. Dieses Einsparpotenzial ist auch darin begründet, dass für die Erwärmung mithilfe der strukturgebenden Kohlenstofffasern keine weiteren Systemkomponenten auf die Struktur aufgebracht werden müssen. Die ohnehin vorhandenen Kohlenstofffasern werden dabei sogar für mehr als eine Funktion genutzt. Zudem wird erwartet, dass sich die diskrete Verteilung der aktiv heizenden Fasern so gestalten lässt, dass ein Optimum aus Strukturintegrität und Heizfunktion erzielbar ist. Es würde also keine überschüssige Masse entstehen und nur so viel Energie wie nötig für das Enteisungssystem verwendet werden. Dies würde eine Verbesserung der Gesamteffizienz auf Systemebene bedeuten.
via: HAW Hamburg
[1] Schutzeichel, M.O.H.; Linde, P.: Heatable Leading-Edge Apparatus, Leading-Edge Heating System and Aircraft Comprising Them, Applicant: Airbus Operations GmbH, Application Nr.: CN201910526359 20190618
[2] Schutzeichel, Maximilian Otto Heinrich; Kletschkowski, Thomas; Linde, Peter; Asp, Leif E.: Experimental Characterization of Multifunctional Polymer Electrolyte Coated Carbon Fibres. In: Functional Composites and Structures 1 (2019), Nr. 2, 025001
[3] Schutzeichel, Maximilian Otto Heinrich; Kletschkowski, Thomas; Monner, Hans Peter: Microscale Thermal Modelling of Multifunctional Composite Materials Made from Polymer Electrolyte Coated Carbon Fibres Including Homogenization and Model Reduction Strategies. In: Applied Mechanics 2 (2021), Nr. 4, S. 739–765
[4] Schutzeichel, Maximilian Otto Heinrich; Strübing, Thorben; Tamer, Ozan; Kletschkowski, Thomas; Monner, Hans Peter; Sinapius, Michael: Experimental and Numerical Investigation of a Multifunctional CFRP towards Heat Convection Under Aircraft Icing Conditions. In: Applied Mechanics 3 (2022), Nr. 3, S. 995–1018